Copyright: Penguin Verlag
ISBN: 9783328604686
Erschienen: 12.November 2025
Mit Die elfte Stunde kehrt Salman Rushdie nach dem nachdenklichen, schmerzhaft autobiografischen Knife zu dem zurück, was ihn seit jeher auszeichnet: der kunstvollen, herausfordernden Erzählung, die Wirklichkeit befragt, verschiebt und neu zusammensetzt. In fünf Erzählungen entwirft Rushdie eine bunte Mischung eigenwilliger Charaktere und Schauplätze, das ebenso verspielt wie ernsthaft ist.
Da sind die zwei alten Nachbarn in Indien, Junior und Senior, deren Verhältnis von Rivalität, Erinnerung und leiser Zuneigung geprägt ist. Rushdie widmet sich hier dem Alter mit seltener Aufmerksamkeit: nicht als bloßem Abstieg, sondern als Lebensphase voller Würde, Widerspruch und Erkenntnis. Dieses Motiv zieht sich durch das gesamte Buch. Besonders deutlich wird dies im letzten Kapitel auf einer Piazza, wo ein alter Mann schließlich jene Anerkennung erfährt, die ihm lange versagt blieb – beinahe Ruhm, jedenfalls Respekt.
Magischer wird es in Chennai, wo eine Musikerin mit ihrer Kunst buchstäblich in die Welt eingreift. Ihre Musik besitzt Kräfte, die Gerechtigkeit herstellen können – ein typisches Motiv Rushdies, in dem Fantastik und politischer Anspruch untrennbar miteinander verwoben sind. Auch hier geht es um Stimme, Wirkung und Verantwortung: welche Macht Sprache entfalten kann.
Besonders eindrücklich ist Rushdies Plädoyer für die Freiheit des Wortes. Wenn er schreibt: „Wir haben aufgehört, Liebhaber von Gedichten zu sein, […] um Stammtischmoralisten zu werden. Wir sind heute alle Gladiatoren im Kolosseum des Daumens.“ dann ist das eine bittere Diagnose unserer Gegenwart. Doch Rushdie belässt es nicht bei der Klage. Die Sprache, so sein Trost, verlässt die Piazza „erhobenen Hauptes“ – unbesiegt, widerständig, lebendig.
Die Lektüre von Die elfte Stunde ist, wie so oft bei Rushdie, keine leichte. Die Erzählungen sind teils kompliziert, verwirrend, voller Sprünge und Anspielungen. Doch gerade darin liegt ihre Stärke. Sie stellen die Welt infrage, drehen Perspektiven um und eröffnen dem Leser eine ungeahnte Interpretationsfreiheit. Wer sich darauf einlässt, wird belohnt: mit einem Buch, das fordert, verunsichert und zugleich tief fasziniert – und das eindrucksvoll zeigt, warum Salman Rushdie eine der für mich persönlich faszinierendsten und wohl auch wichtigsten Stimmen der Weltliteratur geblieben ist.

