von Jimmy Liao
Chinabooks E. Wolf, 2019
Taschenbuch, 128 Seiten
all age
ISBN 978-3-905816-84-6
24,90 Euro
In dem Jahr, als der Engel am Eingang der U-Bahn von mir Abschied nahm, bin ich allmählich erblindet. An meinem 15. Geburtstag, einem Morgen im Herbst, nieselte es draußen. Ich fütterte meine Katze, und um fünf nach sechs betrat ich die U-Bahn.
Das blinde Mädchen tastet sich durch endlose Gänge, klettert unendlich viele Stufen hinauf und hinunter und streift ziellos durch die unterirdischen Tunnel und Schächte. An manchen Stationen steigt sie in die U-Bahn ein und fährt ein Stückchen mit. Wenn das Gedränge im Wagen ihr zu viel wird, steigt sie aus, an irgendeiner fremden Station, die sie gar nicht kennt. Sie ist traurig und verliert die Orientierung, sie verläuft und verletzt sich, aber sie versucht es immer wieder. Vielleicht kommt sie irgendwann auf der anderen Seite der Erde wieder heraus und dort erwartet sie jemand, der sie in einen Garten voll blühender Rosen führt?
Die Welt kommt dem Mädchen oft grenzenlos vor und manchmal auch wie ein Irrgarten, aus dem es kein Entrinnen gibt. Aber sie gibt nicht auf und sucht den allersüßesten roten Apfel und das Blatt aus Gold, aber auch den sprechenden Fisch, mit dem sie auf dem Grund des Meeres flüsternd ihre Geheimnisse teilen kann. Doch wie kann sie die finden?
Was kann man sehen, wenn man nichts mehr sehen kann? Man muss sich auf seine Erinnerungen zurückbesinnen und seine Welt mit Worten, Düften und — dem Klang der Farben füllen. Zum Beispiel mit dem Echo einsamer Schritte in der stillen Luft, mit dem wispernden Rascheln der Zweige im Wind, mit dem leisen Gesang eines traurigen kleinen Mädchens, mit dem zarten Flügelschlag eines flatternden Schmetterlings. Dann entstehen im Kopf neue farbenprächtige Bilder von verschneiten Sternen und Duftblütenbäumen, von Aschenputtels gläsernem Schuh und dem Mond am Ende der Welt, der “das Licht im Herzen schimmern lässt.”
Obwohl Texte und Bilder für mich nicht unbedingt dieselbe Geschichte erzählen, hat mich dieses Buch von der ersten Seite an fasziniert und angerührt. Man begleitet das blinde Mädchen durch seine ganz eigene Welt und ist sich am Ende ganz sicher: Trotz aller Hindernisse findet es mutig seinen Weg. Und so passt auch das Rilke- Gedicht am Ende sehr stimmig ins Bild.
Ich muss nichts mehr entbehren jetzt,
alle Farben sind übersetzt
in Geräusche und Geruch
und sie klingen unendlich schön
als Töne. ..
Dieses Bilderbuch ist so zart und melancholisch, so träumerisch und hoffnungsvoll, aber auch so stark und kämpferisch und es lässt die Farben geradezu explodieren. Niemand kann sich dieser mitreißenden Kreativität entziehen. Jimmy Liao schreibt und zeichnet nicht nur „Bilderbücher für Erwachsene“, (so wie der Verlag in seiner Werbung schreibt), auch Kinder sind, natürlich auf ganz andere Weise, von den spannende Gedanken und Geschichten gefesselt. Deshalb eine ganz große Leseempfehlung für ein wirklich ganz besonderes Buch.
Jimmy Liao, der taiwanesische Autor dieses Buches, hat erst mit 40 Jahren angefangen zu schreiben und zu zeichnen. Sein erstes Bilderbuch sollte eigentlich ein Abschiedsgeschenk für seine Familie sein (er kämpfte zu dieser Zeit gegen Leukämie, die er nur knapp überlebte). Aber es kam anders und das Buch wurde ein unerwarteter Erfolg. Mittlerweile hat Jimmy Liao eine ganze Menge solcher “Bilderbücher für Erwachsene” geschrieben. Sie wurden in viele Sprachen übersetzt und sind zu Filmen, Musicals und Fernsehspielen umgeschrieben worden.
In deutscher Sprache sind bisher folgende Titel erschienen:
Die Sternennacht
Der blaue Stein
Das Kino des Lebens
Der Klang der Farben
Monika H.