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von Robin Roe
aus dem Englischen von Sonja Finck
Königskinder, 2017
gebunden, 416 Seiten
ab 14 Jahren
ISBN 978-3-551-56029-2
19,99 Euro
„Verrückt, auf wie viele verschiedene Arten man Menschen vermissen kann. Man vermisst all die Dinge, die diese Menschen getan haben. Man vermisst die Menschen an sich. Und man vermisst die Bedeutung, die man selbst für diese Menschen gehabt hat. Weil damals, als sie noch da waren, alles, was du gesagt oder getan hast, toll und lustig und interessant war. Du vermisst, wie wichtig du diesen Menschen warst.“
Der vierzehnjährige Julian ist ein unscheinbarer Typ. Er versucht, nicht aufzufallen, so dass die Menschen, die sich später an ihn erinnern sollen, gar nicht sagen können, ob er nun wirklich da war oder nicht. Er spricht so leise, dass man ihn kaum verstehen kann und versteckt sich in der Schule sogar in leer stehenden Klassenräumen, nur um nicht in den Unterricht zu müssen, wo seine Mitschüler und Lehrer ihn drangsalieren könnten.
Das war nicht immer so. Damals war Julian war ein fröhlicher, aufgeweckter Junge, der überall mitmischte und sehr gerne sang. Damals, als seine Eltern noch lebten. Doch seit sie bei einem Autounfall ums Leben kamen, ist alles anders. Julian lebt nun bei seinem grausamen Onkel und muss sich dessen strengen Regeln beugen. Tut er es nicht, muss er die bitteren Konsequenzen tragen. Doch davon erzählt er niemandem. Stattdessen zieht er sich in sein Zimmer zurück, zu seinem Schrank- Koffer, der gefüllt ist mit Erinnerungen und den Heften (Tagebüchern) seiner Mutter.
Als Julian eines Tages zufällig den lebensfrohen und quicklebendigen Adam wiedertrifft, ändert sich seine Situation. Adam schafft es mit Hilfe seiner Freunde, Julian ganz langsam aus seinem Schneckenhaus herauszulösen. Doch das passt Julians Onkel ganz und gar nicht. Er meldet Julian Hals über Kopf von der Schule ab und legt falsche Fährten für Julians Freunde. Für sie ist Julian von diesem Moment an spurlos verschwunden…
Dieses Buch ist alles auf einmal: Atem beraubend, schockierend, packend und grausam, aber auch mitfühlend, zärtlich und kraftvoll. Von der ersten Seite an spürt man fast schmerzlich Julians Geheimnis zwischen den Zeilen schweben, man weiß, dieser Junge hat etwas Dunkles und Furchtbares erlebt, und man möchte ihm so gern helfen. Lange Zeit ist überhaupt nicht klar, warum Julian sich so verhält, wie er es tut, denn die Autorin geht sehr spärlich mit Hinweisen zur Klärung um. Aber sie schafft es, eine erstaunliche Sogwirkung mit ihrer Geschichte herzustellen, denn man verstrickt sich als Leser immer tiefer in Julians Leben und Gefühle und kann einfach nicht aufhören zu lesen.
Was der Koffer mit der ganzen Sache zu tun hat, das lässt sich nicht im Entferntesten erahnen, aber in dem Moment, wo “es” passiert, bleibt einem schlicht der Atem weg beim Lesen.
Die Autorin hat eine kunstvolle Geschichte aus Rückblenden und Gegenwart gewebt. Sie erzählt sie in einer schlichten, schnörkellosen Sprache, sodass die entsetzlichen Dinge auf den ersten Blick ganz harmlos klingen, sich aber dann in der Fantasie des Lesers zu wahren „Monstern“ entwickeln.
Dieses Buch ist grandios, umwerfend und überwältigend, aber es verschlägt einem auch im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache.
Monika H.