von Megan Shepherd
aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck
Sauerländer, 2017
gebunden, 256 Seiten
ab 12 Jahren
ISBN 978-3-7373-5402-8
14,99 Euro
Das geflügelte Pferd hat das Interesse an Annas Tee verloren und entfernt sich rückwärts aus dem Spiegel-Zimmer, wobei es mit dem Rumpf gegen die verwinkelten Wände des Spiegel-Korridors stößt. Ich halte mir die Hand vor den Mund, um nicht laut zu kichern. Anna kann das geflügelte Pferd im Spiegel nicht sehen. Niemand kann das – nur ich.
Emmaline sieht Pferde, die andere nicht sehen können. Sie kommen ihr aus den Spiegeln des alten Herrenhauses Briar Hill entgegen und Emmaline zeichnet sie alle. Das lenkt sie ab von ihrer Krankheit und ihrem Kummer. Emmaline hat Tuberkulose und sie hat bei einem Brand ihre Familie verloren. Jetzt ist sie wegen der Ansteckungsgefahr in ein abgelegenes Krankenhaus gebracht worden. Dort lebt sie mit anderen Tuberklose kranken Kindern ein ziemlich trostloses Leben. Bis sie eines Tages im verwunschenen Garten von Briar Hill einem weißen, geflügelten Pferd begegnet. Es heißt Foxfire und schwebt in großer Gefahr. Denn es ist verletzt und braucht ihre Hilfe gegen den schwarzen Hengst mit den donnernden Hufen. Das weiß Emmaline aus den geheimnisvollen Briefen, die der „Herr der Pferde“ ihr im Garten hinterlässt. Er gibt ihr Ratschläge und Aufgaben, wie sie Foxfire beschützen kann. Doch diese Rettungsaktion bringt Emmaline an den Rand ihrer Kraft und ihrer Möglichkeiten….
Dieses Buch umweht eine sehr mystische Stimmung. Als Leser weiß man nie genau, was ist Fantasie und was Wirklichkeit, was ist Traum und was Realität. Trotzdem kann man sich den Geheimnissen von Briar Hill kaum entziehen und fiebert auf jeder Seite mit Emmaline mit. Die Spannung wird aus der düsteren und „gewaltigen“ Umgebung des alten Herrenhauses erzeugt, sie entsteht aus mysteriösen Andeutungen, Lügen und einer Wahrheit, die nie ganz zu fassen ist. Gibt es das weiße Pferd wirklich? Und kann ein todkrankes Mädchen sich wirklich gegen ein zerstörerisches schwarzes Pferd wehren? Und wer ist der seltsame „Herr der Pferde“ wirklich? Kennt Emmaline ihn besser als sie es sich vorstellen kann?
Das Ende der Geschichte bleibt offen, jeder Leser kann seine eigenen Schlüsse ziehen und die Autorin beschreibt in ihrem Nachwort sehr genau, warum sie so gehandelt hat. Das hat mir gut gefallen, obwohl ich eigentlich doch lieber genau gewusst hätte, was Sache ist. Aber obwohl das Buch ganz schön „ schwere Kost“ ist, möchte ich es euch ans Herz legen, denn es ist sehr bewegend und anrührend und auf seine eigene seltsame Weise auch ganz „wunderschön“. Das liegt zum einen an der gefühlvollen (Bild-)Sprache, die die Autorin findet. Zum andern liegt es an der sehr überzeugenden Hauptperson, Emmaline, deren widersprüchliche Gefühle man so gut nachvollziehen kann. Und bevor man überhaupt eine Seite gelesen hat, besticht einen schon das grau-weiße, fast fotografische Cover des Buches, das einen ganz eigenen Zauber hat und ein richtiger Hingucker ist.
Monika H.