Sommerferien Special -Fanfiction

Schreib-Wettbewerb 2018

Die Moerser Kinder-und Jugendbibliothek hat von April bis Juni zu einem Fanfiction- Schreib-Wettbewerb aufgerufen. Kinder und Jugendliche konnten sich ein beliebiges Buch als Vorlage aussuchen und eine Fortsetzung, ein alternatives Ende oder eine ganz eigene Geschichte schreiben.

Wir möchten euch die drei Siegergeschichten gern hier im Blog vorstellen, denn Imke (2.v.r.) und Sophie ( 1.v.r.) gehören auch zu den eifrigsten Bloggerinen bei den VOR-Lesern. Corinna Struck ( 1.v.l.) hat sich einfach so beteiligt.

Fanfiction Wettbewerb

 

 

 

 

 

 

Der erste Preis dieses Wettbewerbs geht an Imke Wellesen, 18 Jahre

Coverfoto Bunker Diary
Copyright: dtv

Bunker Diary
von Kevin Brooks
aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschahn
dtv, 2014
broschiert, 300 Seiten
ab 16 Jahren
ISBN 978-3-4237-4003-6
12,95 Euro

Imke schreibt dazu: In meiner Fanfiction beziehe ich mich auf das Buch „Bunker Diary“ von Kevin Brooks.

Das Buch handelt von dem sechzehnjährigen Jungen Linus. Zu Beginn der Handlung lebt Linus auf den Straßen von London, nachdem er von zu Hause weggelaufen ist, da sein Vater unter Drogenproblemen leidet und sich wegen seiner ständigen Arbeit kaum um ihn kümmert. Linus hält sich mit Straßenmusik über Wasser, bis er von einem Mann, als er diesem helfen will, betäubt und in einen unterirdischen Bunker entführt wird. Linus vermutet zunächst eine Entführung, da sein Vater durch eine Zeichentrickserie in Japan extrem reich geworden ist, doch dann kommen nacheinander fünf weitere Menschen in den Bunker hinzu: Die junge Jenny, ein Schulkind aus Essex; Fred, ein Autoschlosser und Heroinabhängiger; Anja, eine Immobilienmaklerin; William Bird, ein Finanzberater aus London und Russel, ein Naturwissenschaftler und Autor. Zunächst verläuft das Leben im Bunker recht friedlich: Die Gruppe bekommt auf Nachfrage Essen von dem Mann, der sie entführt hat, genannt Mr. X, und dieser überwacht sie Tag und Nacht mit Kameras und Mikrofonen, ohne sich dabei selbst zu zeigen. Als sie dann jedoch versuchen auszubrechen, beginnt Mr. X sie zu bestrafen: Er versteckt Drogen in ihrem Essen, manipuliert die Temperatur im Bunker und beschallt sie über Stunden mit lauter Musik. Als er dann schließlich einen Hund mit der Nachricht, dass derjenige, der jemand anderen umbringt, frei kommt, herunter sendet, eskaliert die Lage. Bird wird von dem Hund verletzt, bringt Anja um, in der Hoffnung freizukommen und stirbt kurz darauf an einer Blutvergiftung. Russel beginnt, schwere Nebenwirkungen durch einen Hirntumor zu haben, den er im Bunker nicht richtig therapieren kann, und nimmt sich wenig später das Leben. Schließlich scheint Mister X das Experiment aufzugeben, denn es kommt kein Essen mehr und der Generator fällt aus. Linus findet heraus, dass Anja die ganze Zeit Essen für sich alleine gehortet hat, wodurch Fred, Jenny und er noch einige Zeit überleben können. Als sie schließlich dann auch kein Wasser mehr haben, trinkt Fred Bleichmittel, um schneller zu sterben. Am Ende des Buches stirbt Jenny und Linus ist dem Tode nahe.

Die gesamte Geschichte wird von Linus durch sein Tagebuch beschrieben, das er während der gesamten Zeit im Bunker führt und mit dem er seine innersten Gedanken teilt. Meine Geschichte setzt nach dem Ende des Buches an und soll erklären, wer dieses Experiment durchgeführt hat und warum. Sie ist ebenfalls aus Linus` Sicht in sein Tagebuch geschrieben. Die Handlung spielt etwa ein Jahr nach den letzten Geschehnissen im Buch.

Nachtrag

Samstag, 23. Januar

Ich hätte nicht gedacht, dass ich nochmal in dieses Buch schreiben würde. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass ich überhaupt nochmal etwas machen würde. Aber sind die Dinge am Ende nicht immer alle anders als erwartet? Es ist nicht fair, wie es ausgegangen ist, aber etwas ändern kann ich daran auch nicht. Du fragst dich jetzt sicher: „Hey Linus, was ist passiert und warum lebst du überhaupt noch?“ Es ist zu viel passiert, um es beschreiben zu können und ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, mit dir darüber zu reden.

20:31 Uhr

Das Buch lag die ganze Zeit neben mir. So weit weg, dass ich nicht danach greifen konnte. Aber ich konnte einfach nicht anders, als diese vertrauten Seiten zu berühren, die ich so mit meinem ganzen Herzen gehasst habe. Ich wollte dich verbrennen, doch es kam zu viel dazwischen. Erst haben sie dich behalten. Als Beweismittel. Dann kam die freundliche junge Frau mit dem Pferdeschwanz, reichte mir eine Tüte und sagte, dass ich dich doch sicher gerne wieder hätte. Ich wollte dich nicht wieder, doch jetzt bin ich zu feige, dich zu verbrennen.

Weißt du, mein Dad, er war es. So oft hab` ich in den verzweifelten Stunden dort unten an ihn gedacht und dann war er es. Er hat mich alleine gelassen. So wie früher. So wie immer.

Ich denke, ich sollte es dir vielleicht erklären. Ich habe überlebt. Alleine. Alle anderen sind tot. Jenny, mit ihren wunderschönen unschuldigen Augen. Fred, Russel… alle tot. Ich wäre auch beinahe gestorben, sagen sie. Ich weiß nicht, ob mir das nicht vielleicht lieber gewesen wäre. Erinnern kann ich mich daran nicht. Auch nicht an meine Tage im Krankenhaus. Sie waren einfach ein großer Brei an Sinnlosigkeiten, wo doch alle anderen weg waren. Was hab ich gemacht, um es verdient zu haben zu überleben? Erst als ich alleine auf der Straße stand, wurde mir bewusst, dass ich nirgendwo hingehen konnte. Ich hab` versucht im Haus meines Dads zu leben, wie sie gesagt haben, aber dann bin ich wieder auf die Straße geflohen. Das Haus kam mir einfach falsch und feindlich vor. So als hätte Dad es verdorben.

Sie haben die Schuldigen nicht erwischt. Ich glaube, das ist das Schlimmste: Zu wissen, wer es uns angetan hat und trotzdem nichts tun zu können. Ich möchte nicht wissen, wie es Jennys Eltern geht. Schmieden sie wohl Rachepläne? Oder haben sie Jenny schon wieder vergessen und sind zu ihrem normalen Leben zurückgekehrt? Ich habe sie jedenfalls nicht vergessen. Ich habe auch ihn da oben nicht vergessen, habe nicht vergessen, was er uns angetan hat.

21:14 Uhr

Ist es ironisch, dass sie sich der 666-Kreis genannt haben? Oder dachten sie sich, dass es lustig wäre? Wahrscheinlich haben sie über ihren wundervollen Witz gelacht, während wir unten gestorben sind. Der 666-Kreis, bestehend aus den Superreichen unserer Nation. Diese Menschen, die verachtend auf einen herunterspucken und einen achtlos zur Seite kicken, wenn man seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Wir haben unseren Zweck wohl nicht mehr erfüllt. Das Spiel ist ihnen zu riskant und langweilig geworden.

21:50 Uhr

Ich habe mich entschlossen. Die ganze Welt soll es wissen. Alle sollen wissen, was uns angetan wurde und wer es getan hat. Ich habe grade schon mit dem Verleger meines Vaters telefoniert. Erst war er etwas überrascht von meiner Bitte, doch ich denke, dann sah er die Möglichkeit aufs große Geld vor sich. Das Geld ist mir egal. Davon hab ich jetzt genug. Ich will nur, dass möglichst viele Menschen meine Geschichte kennen. Dass Jennys Eltern die ganze Wahrheit erfahren. Ich werde dich veröffentlichen. Nicht DICH natürlich, denn du bist in meinem Kopf, oder wo auch immer. Aber dieses Buch. Mein „Bunkerdiary“. Für das komplette Bild musst du aber das Ende kennen. Nur dann ergibt alles einen Sinn:

Es war ein Spiel. Ein perfides, abartiges, mörderisches Spiel. Und es ging natürlich um Geld. Es geht immer um Geld. Sie, der 666-Kreis, haben uns eingesperrt und uns Tag für Tag beobachtet. Beobachtet wie Tiere in einem Zoo. Zunächst war es wohl nur eine dumme Idee. Aber wenn sechs Menschen mit Bergen von Geld eine dumme Idee haben, dann wird aus einer Idee oft Wahrheit. Jeder von ihnen durfte einen „Kandidaten“ auswählen. Es hört sich schon schrecklich an, dieses Wort nur zu sagen.  Es fühlt sich so harmlos an im Mund. So als wären wir Teilnehmer in einer dummen, langweiligen Talentshow gewesen. Aber das waren wir nicht. Wir waren die Opfer einer abartigen Survival-Show. Für uns gab es keine Hoffnung. Für sie gab es nur drei Regeln, sonst nichts:

1) Derjenige, dessen Kandidat als Letztes übrig bleibt, gewinnt und kassiert das extravagante Preisgeld. 2) Keine direkte Einmischung in das Geschehen. 3) Keine Medikamente. Wer stirbt, der stirbt.

Natürlich hatten sie auch einen neutralen „Schiedsrichter“: Andrew Farson. Er war gewissermaßen Mister X. Derjenige, der uns bestraft hat. Derjenige, der uns mit allen Mitteln an der Flucht hindern sollte. Das miese Schwein, dem ich so oft dort unten gerne den Kopf eingeschlagen hätte. Der leitende Polizist, sein Name war nicht wichtig, hat mir erklärt, dass er so eine Art „Allround Genie“  aus dem Dark Web ist.  Für den richtigen Preis erledigt er jedes dreckige Geschäft. Und Geld hatten sie ja genug. Wer weiß, wie sie Kontakt zu ihm aufgenommen haben. Er hat es wahrscheinlich geliebt, diese Spielchen mit uns zu spielen. Ich hasse ihn. Aber natürlich war es nicht seine Idee, dieses Spiel zu starten. Das war ihre Idee.

Nummer 1: Lukas Burns. Bankleiter, hat sein großes Geld an der Börse gemacht. Er hat Bird ausgesucht. Anscheinend kannte er ihn von seinen Beratertätigkeiten für seine Bank. Keine Ahnung, warum er ausgerechnet Bird ausgesucht hat. Vielleicht dachte er, dass er mit seiner Überzeugungskraft die Oberhand gewinnen kann. Was weiß ich.  So einen kranken Kopf kann ich nicht verstehen. Er ist der Undurchsichtigste aus der Gruppe, hat wohl lieber im Schatten operiert, um sich ja seine piekfeinen Hände nicht dreckig zu machen. Man hat halt viel zu verlieren als Banker. Aber nicht so viel wie wir dort unten.

Nummer 2: Jason Rumbler. Kommt dir der Name bekannt vor? Dann liegt es wahrscheinlich daran, dass sein Name auf jedem zweiten Gebäude in London steht. Mr. Rumbler ist der Londoner Immobilienhai. Und nebenbei auch Anjas Chef. Er hat sie ausgewählt, weil er sie für stark und selbstständig gehalten hat. Das hat mir die Polizei zumindest erzählt. Wie man sich irren kann. Selbstständig war Anja vielleicht, auch wenn selbstsüchtig wahrscheinlich besser passen würde, aber stark war sie definitiv nicht.

Nummer 3: Brad Newhouse. Von ihm hast du wahrscheinlich gehört. Er ist dieser gutaussehende Typ im roten Anzug, der auf viel zu großen Plakaten für seinen viel zu bunten Internetversandhandel wirbt. Ich hasse seinen roten Anzug und ich hasse sein beschissenes, übertriebenes Lächeln. Am liebsten würde ich es ihm aus dem Gesicht schlagen. Ihr fragt euch sicher, wen Newhouse ausgewählt hat. Diesmal ist es nicht so einfach, ich gebe es zu.  Aber Newhouse war ein riesiger Fan von Russels Buch.  Und da dachte er sich, dass er mit einem Genie wohl die besten Chancen auf den Gewinn hätte. Wenn wir hier nicht über Russel reden würden, würde ich fast lachen, bei dem Gedanken daran, wie falsch er gelegen hat. Anscheinend hat er seine Recherche nicht gründlich genug betrieben, der gute Brad, denn er wusste nichts von Russels Hirntumor. Muss ihm wohl einen ganz schönen Schrecken eingejagt haben, als Russel mir davon erzählt hat. Wahrscheinlich haben die anderen daneben gesessen und über seine Dummheit gelacht. Und nicht einen Gedanken an Russel verschwendet.

Nummer 4: Robert Catrino. Ihm gehören die erfolgreichsten und größten Casinos in London. Den größten Teil seines Geldes hat Catrino aber wohl mit Drogen gemacht. Er ist einer dieser schmierigen Typen, die sich ihre Haare mit Tonnen von Gel zurückkämmen und dich dann mit ihrem Goldzahnlächeln angucken, bevor sie dich erschießen lassen. Ich will nicht wissen, wie viele Leute er mit seinen Drogen auf dem Gewissen hat und wie viele Familien er damit zerstört hat. Mir reicht es schon zu wissen, wen er ausgewählt hat. Fred hatte ja ziemliche Heroin-Probleme. Und Catrino hatte wohl schon öfter Ärger mit ihm und wollte ihn sowieso „loswerden“. Was eignet sich da wohl besser als ein illegales Mörderspiel?  Du wirst die nervige Fliege, die schon seit Jahren um deinen Kopf herumbrummt, los und hast dabei noch die Chance auf ein riesiges Preisgeld. Und Fred war ja keine schlechte Wahl. Er war stark und zu allem fähig für seine Drogen. Der perfekte Killerhund im Spiel. Nur dass er im Endeffekt nicht ganz so tödlich war, wie Catrino gedacht hat. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Catrino war übrigens auch das Arschloch, das meinem Dad seine Drogen verkauft hat. Er hat ihn zu diesem seelenlosen Monster gemacht.  Er hat dafür gesorgt, dass er mich verraten hat. Er hat dafür gesorgt, dass ich jetzt niemanden mehr habe. Und ich weiß nicht, wen ich mehr hassen soll: Ihn genau dafür, oder meinen Dad, weil er sich so einfach hat verführen lassen.

22:45 Uhr

Ich kann einfach nicht aufhören, über Dad nachzudenken. War er sich im Klaren darüber, was er tat? Oder war sein Hirn einfach so vernebelt, dass ihm nichts anders als die Drogen und das Geld wichtig waren?

Es gibt jetzt Wichtigeres als ihn. Ich muss die Liste zu Ende bringen. Ich schulde es den anderen. Dann muss ich sowieso nochmal über Dad reden.

Nummer  5: Christian Moulton. Er ist wohl der perverseste Mensch auf dieser Liste, denn er hat Jenny nominiert. Ein kleines, neun Jahre altes Mädchen. Wie krank muss man in seinem Kopf sein, um so etwas zu tun? Angeblich kannte er Jenny über ihre Mutter. Moulton war Chefarzt in der Klinik in Essex und hat Jennys Mum behandelt. Ich habe vergessen, was sie hatte, aber ich weiß, dass es etwas Schlimmes war.  Es hat mich gewundert, dass Jenny mir nie davon erzählt hat, aber vielleicht schien es ihr nicht wichtig, oder vielleicht wollte sie  es mir es nicht erzählen. Sie war halt doch erwachsener als ich dachte. Moulton wusste das. Er war wohl beeindruckt von Jennys Stärke und Selbstständigkeit, die sie seit der Krankheit ihrer Mutter entwickelt hatte. Außerdem dachte er sich, dass es unwahrscheinlich wäre, dass die anderen Kandidaten Jenny umbringen würden. Der „Kleines-Mädchen“-Vorteil sozusagen. Arschloch. In diesem Fall hatte er zwar Recht, doch das hat Jennys Leben auch nicht gerettet. Denn dieses verblendete Schwein hat sie sterben lassen, hat uns alle sterben lassen. Hat er einen Finger gerührt um Jenny zu retten? Ein kleines Mädchen, das den Großteil seines Lebens noch vor sich gehabt hätte? Natürlich nicht. Als sein fetter Arsch in Gefahr war, hat er sich aus dem Staub gemacht, so wie alle anderen auch. Aber ich glaube, diese Menschen sind immer so. Auf der einen Seite tun sie so unglaublich wohltätig und reden nur von dem Besten für die Menschen und auf der anderen denken sie eigentlich nur an sich, ihre Karriere und ihr Geld. Ich verachte sie alle am meisten für ihren schwachen Charakter.

Nummer 6: Hier sind wir jetzt. Und ich kann seinen Namen immer noch nicht schreiben ohne zu zittern. Charlie Weems. Mein Dad. Ich habe ihn letztlich im Gefängnis besucht. Er wollte mich sehen, mir angeblich alles erklären. Eigentlich hatte ich nicht vor hinzugehen. Aber ich habe mich in letzter Sekunde dann doch dazu entschieden. Ich weiß auch nicht warum. Wahrscheinlich habe ich gehofft, doch meinen alten Dad wiederzufinden. Wir saßen in so einem unangenehmen, weiß gekachelten Besucherraum. Es hat nach Reinigungsmittel gestunken. Wie im Krankenhaus. Seine Augen waren ganz rot und glasig, so wie wenn jemand lange geweint hat. Doch ich wusste es besser, als das zu glauben.  „Linus“, hat er immer wieder gesagt. „Du weißt, dass ich es nicht so wollte.“ Angeschaut hat er mich nie. Seine Blicke zuckten nur durch den Raum und er hat sich die ganze Zeit nervös die Lippen geleckt. Seine Haare hatten eine unnatürlich graue Färbung angenommen und seine Haut wirkte irgendwie ledern. Er hat mir versucht zu erklären, wie es zu alldem gekommen ist, aber das Einzige, was aus ihm herauskam, waren einige unverständlich aneinander gereihte Sätze. Mein Dad war weg–  und zurückgeblieben war diese leere Hülle.

Drogen machen das immer mit dir. Ich habe es schon oft auf der Straße gesehen. Und bei Fred, Anja und Bird. Sie entfernen alles Menschliche und lassen nur ein Tier zurück, das nichts Anderes möchte als seine Droge. Dad hat wohl richtig angefangen mit dem Zeug, als ich weggegangen bin. Fühl ich mich deshalb schlecht? Ich weiß es, um ehrlich zu sein, nicht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihn meine Flucht so mitgenommen haben kann. Aber ich bin nicht mein Dad. Vielleicht hat er ja doch mehr für mich gefühlt, als ich dachte. Meine Schuld oder nicht, durch Dads Sucht hatte Catrino ihn voll in der Hand. Das behauptet mein Dad zumindest. „Linus, er hat mich dazu gezwungen. Du weißt, ich würde dir nie sowas antun, aber er hatte Dinge gegen mich in der Hand, die ich nicht ignorieren konnte.“ Er hat versucht meine Hand zu nehmen, doch ich habe sie abgeschüttelt. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass er mir so etwas freiwillig antun würde. Mein Dad mag zwar ein verantwortungsloses Arschloch sein, aber er ist kein Mörder. Allerdings denke ich auch, dass ihm die Wahl zwischen mir und der Droge nicht so schwer gefallen ist, wie er sagt. Ich konnte es in seinem Blick erkennen, dort in dem Besucherraum. Es war so ein irres Glitzern in ihm, dass ich keine Sekunde gezweifelt habe, dass er mich wieder für seine Droge eintauschen würde. Das Tier auf der Suche nach seiner Beute…

Wie auch immer es passiert ist, dass er im Spiel dabei war, er hat mich ausgewählt. Er hat versucht es mir zu erklären, aus seiner verzerrten, egoistischen Perspektive. Und ich musste mich echt zurückhalten, um ihm keine reinzuhauen. „Ich wollte dich doch nur wiedersehen, Linus. Die ganzen Wochen habe ich nach dir gesucht und mir gewünscht, dass du zurückkommen würdest. Und diese Menschen, sie haben Ressourcen, die du dir nicht in deinen kühnsten Träumen vorstellen könntest. Wenn eine Möglichkeit bestand, dich zu finden, dann durch sie. Und schau dich an, du bist doch nun auch hier, oder? Alles ist gut geworden“, hat er gesagt und mich angelächelt. Ich konnte mich einfach nicht mehr halten und habe ihn angeschrien: „Aber vorher mussten fünf Menschen sterben, Dad. Hast du darüber nachgedacht? Fünf unschuldige Menschen sind durch DEINE Hand gestorben, nur weil du mich wiedersehen wolltest. Und ich wäre auch fast draufgegangen. Wie hättest du mir dann erklären wollen, dass du mich ja nur wiedersehen wolltest?!“ Dann habe ich den Stuhl umgeschmissen und bin raus gerannt. Ganz weit weg. Ich war so angeekelt von ihm und seinem Verhalten.

Das Lustige ist, ich sollte meinem Dad dankbar sein. Er hat mir das Leben gerettet. Aber ich kann ihm nicht dankbar sein, denn er hat die anderen sterben lassen. Durch seine Feigheit. Er hat die ganze Zeit stillgehalten, hat zugesehen, wie sie nacheinander gestorben sind. Als ihm dann bewusst wurde, dass auch ich bald sterben würde, hat er kalte Füße gekriegt. Ich will gerne glauben, dass es eine leichte Entscheidung für ihn gewesen ist zur Polizei zu gehen, um mein Leben zu retten, doch wirklich glauben tu ich es nicht. Wahrscheinlich hat er tagelang in einer Ecke gesessen, ist in Selbstmitleid versunken und hat nur darüber nachgedacht, wie er sich aus der ganzen Sache rausreden könnte. Als ihm dann schließlich aufgefallen ist, dass er es nicht kann, muss er ziemlich fertig gewesen sein. Um ehrlich zu sein, bin ich echt erstaunt, dass er mich nicht einfach hat sterben lassen. Aber vielleicht ist ja doch noch ein bisschen meines alten Dads in ihm. Oder er hat in seinem verrückten Hirn gedacht, sie würden ihm glauben, wenn er sagen würde, er hätte nichts damit zu tun. Wahrscheinlich das Letztere. Mit der Beschreibung, die mein Dad den Polizisten gegeben hat, war es der Polizei möglich, den Bunker zu finden, in dem wir festgehalten wurden. Gerade rechtzeitig, um mich sterbend zu finden, aber natürlich zu spät für Jenny und alle anderen. „Weißt du, wie glücklich ich war, als die Polizisten mir sagten, dass du überlebt hast? Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet“, hat Dad mir stolz erzählt, so als hätte er eine Heldentat begangen. Aber das hat er nicht. Er hat versucht, einen Fehler wiedergutzumachen, den man nicht wiedergutmachen kann.

Die anderen sind natürlich entkommen. Haben den Bunker heruntergefahren und sind abgehauen ins Ausland. Niemand weiß, wie sie herausgefunden haben, dass Dad geredet hat. Vielleicht hat Dad sie auch gewarnt. Oder sie haben ihn beschatten lassen. Was weiß ich. Sie haben gehofft, dass wir verrecken würden, bevor die Polizei uns finden konnte. Wollten sich ihre Finger nicht schmutzig machen. Fast hätte es auch geklappt. Fast. Sie werden ihre Strafe wohl nie durch den Staat bekommen. Vielleicht werden sie irgendwann wünschen, sie hätten es, denn jetzt verteile ich meine Strafe. Meine Geschichte. Wer will schon noch im Versandhandel eines Mörders einkaufen? Wer Geld bei der Bank eines Mörders anlegen? Meine Idee ist simpel, aber genial. Deshalb bitte ich dich jetzt um Mithilfe. Ich weiß nicht, wer du bist, aber du kennst jetzt meine ganze Geschichte. Mir ist es egal, ob du mir glaubst oder nicht, aber das alles ist wirklich so passiert. Mehr kann ich dir nicht bieten. Aber wenn du mir glaubst, verbreite bitte meine Geschichte und sorg mit dafür, dass diese Mörder ihre gerechte Strafe bekommen. Die anderen haben es verdient. Ich habe es verdient. Wenn ich ihnen nicht ihre Freiheit nehmen kann, dann will ich ihnen zumindest das nehmen, was ihnen am wichtigsten ist: Ihren Reichtum und ihr Ansehen. Sie werden nie wieder auf andere Menschen hinunterspucken können, werden nie wieder in Talkshows mit ihrem Reichtum prahlen können. Wenn mein Plan funktioniert, werden wir bald auf sie hinunterspucken können.

Ich weiß nicht, wie es jetzt mit mir weitergehen wird. Ich könnte wieder in das Haus von meinem Dad ziehen. Dort ist es wenigstens warm und trocken. Oder ich könnte mir eine eigene Wohnung kaufen. Seit Dad im Gefängnis ist, hab ich Zugriff auf seine Konten. Von dem Geld darauf könnte ich mir zehn Wohnungen kaufen. Es ist echt verwunderlich, dass noch so viel Geld da ist. Ich dachte, er hätte alles für seine Drogen ausgegeben. Irgendwie fühlt sich der Gedanke daran aber falsch an. Ich möchte nicht sein wie er. Ich möchte nicht reich sein. Ich habe das Geld noch nicht angefasst und verdiene mir mein Essen immer noch mit Straßenmusik. Es ist besser so. Ich stecke in einem großen Loch und weiß nicht, wie ich wieder herauskommen soll. Jetzt gerade sitze ich in einem schäbigen Hauseingang, die dreckige und kalte Wand im Rücken. Draußen regnet es und hin und wieder fallen vereinzelte Tropfen auf das Papier. Es ist besser als in einem viel zu teuren Hotel zu sitzen und in einem viel zu weichen Bett zu schlafen. So fühle ich mich irgendwie lebendiger. Bald wird sich sowieso alles verändert haben. Wenn alles so läuft, wie ich es plane, dann werde ich bald wahrscheinlich berühmt sein. Ich will es eigentlich nicht. Ich möchte nicht wie mein Dad werden, wie sie werden, aber es ist auch ein befriedigendes Gefühl, für sich selbst anerkannt zu werden. Für seine eigenen Taten. Dann werden mich nicht immer alle als „Den Sohn von Charlie Weems“ kennen, sondern als Linus Weems.  Als der Junge, der seinen Vater überlebt hat. Was auch immer sie von mir denken werden, dass ich verrückt, eingebildet oder verzogen bin, das ist, glaube ich, ein verdammt gutes Gefühl. Eigentlich strebe ich so gesehen nach dem Gleichen wie Dad. Er wollte immer berühmt für seine Taten sein und nicht für eine dumme japanische Serie. Vielleicht sind wir im Kern doch gar nicht so verschieden. Und wer weiß, was die Zeit bringt, vielleicht werde ich ihm irgendwann noch eine Chance geben.  Aber Vergeben braucht seine Zeit und bei Dads Taten wahrscheinlich eine ziemlich lange.

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