Wie man eine Raumkapsel verlässt

Copyright: dtv

von Alison McGhee
Taschenbuch, 205 Seiten
dtv, 2021
ab 12 Jahren
ISBN: 978-3-423-64071-8
12,95 Euro

„Ein Stück von meinem berühmten Maisbrot, mein Sohn?“  – „Nee.“  Das waren die letzten Worte, die Will mit seinem Vater wechselte, bevor dieser von einer Brücke sprang. Niemand hätte damit gerechnet, dass sein Vater Suizid begeht. Sein Vater, mit seiner Liebe für alte Musik. Sein Vater, der aus Maisbrotbacken eine wahre Kunstform schuf. Seitdem fragt Will sich was wäre, wenn er an jenem Morgen „ja“ gesagt hätte. Was wäre passiert, wenn er sich zu seinem Vater gesetzt hätte, um mit ihm Maisbrot zu essen?

Wäre sein Vater dennoch gesprungen? Hätte er es verhindern können? Irgendwie vorherahnen, wie es seinem Vater wirklich geht? Ähnliche Fragen stellt er sich bei seiner alten Schulfreundin Playa, die auf einer Feier vergewaltigt wurde. Wie konnte das passieren? Und auch wieder: Hätte es verhindert werden können? Was kann er tun, damit es ihr besser geht? So viele Fragen, so viele schlimme Dinge, die tagtäglich passieren. Und dagegen hilft nur eine Sache: Laufen.

Seit dem Tod seines Vaters ist Will ein Läufer geworden. Tagein, tagaus, geht er weite Strecken durch die ganze Stadt. Vertreibt alles Schlechte durch seine Fußsohlen – aus seinem Körper raus, rein in den Boden. Dabei versucht er die Menschen in seinem Umfeld glücklich zu machen. Schenkt ihnen kleine Aufmerksamkeiten, um ihnen im düsteren Alltag eine kleine Freude zu bereiten. Er lebt in seiner eigenen kleinen Kapsel von Tag zu Tag, doch irgendwann wird es Zeit, diese zu verlassen. Aber wie verlässt man eine Raumkapsel?

Will lebt in einer wirklich belastenden Situation und man merkt deutlich, wie sehr er unter dem Tod seines Vaters leidet und auch, dass ihn die Vergewaltigung von Playa nicht loslässt. Das ständige Laufen verleiht seinem Leben und auch der Geschichte eine gewisse Struktur, bei der ich als Leser gut nachvollziehen konnte, warum es ihm hilft. Es gibt seinem Leben einen Sinn, all diese Stationen abzuklappern und den Leuten dort eine Freude zu machen.

Besonders gut an diesem Buch hat mir tatsächlich die Gestaltung der Erzählung gefallen, wobei ich ehrlich zugeben muss, dass ich mich damit am Anfang sehr schwer getan habe. Die Geschichte ist in sehr kurzen Kapiteln geschrieben, die immer nur sehr rudimentäre Einblicke in die Handlung und Wills Leben geben. Zu Beginn fand ich persönlich diese Erzählweise sehr befremdlich, aber je weiter ich gelesen habe, desto klarer wurde mir, wie gut es doch zu Wills Geschichte passt. Wenn man derart schreckliche Dinge erlebt wie Will, kommt es häufig vor, dass sich der Bezug zur Realität etwas verändert. Man landet in einer Raumkapsel, aus der man erstmal nicht mehr rauskommt. Dabei bekommt man vom eigentlichen Leben kaum noch etwas mit, stattdessen erhalten die banalsten Dinge, wie eben das Laufen, eine ganz neue Bedeutung.

Die Eindrücke, die Will unterwegs sammelt, bilden demnach doch ziemlich treffend seine Realität ab, man muss sich nur darauf einlassen, die Welt aus der Perspektive seiner Kapsel zu sehen. Die kurzen Kapitel fügen sich zusammen zu einem größeren Bild, und es war eine wirklich tolle Leseerfahrung, diesen Prozess zu beobachten.

Ann-Kathrin Opiolka, 19 Jahre

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