von Chelsea Bobulski
aus dem Englischen von Anna Brauner und Susann Friedrich
Carlsen Verlag, 2019
Taschenbuch, 352 Seiten
ab 14 Jahren
ISBN 978-3-551-31813-8
13,00 Euro
Im Hintergrund an der Veranda, und zwar hinter einem Kind, das halb über dem Geländer hängt, und einer Frau, die ihr Haar zu einer wolkengleichen Frisur aufgetürmt hat, steht ein Mädchen, das komischerweise aussieht wie ich. Ich schalte die Schreibtischlampe an und schaue genauer hin. Auch sie hat ein herzförmiges Gesicht und ein spitzes Kinn. Da sie beim Lachen die Augen zusammenkneift, kann ich an der Stelle unsere Ähnlichkeit nicht beurteilen, aber am Hals hat sie einen Fleck, der ein Schatten sein könnte – oder aber ein mir wohlbekanntes Muttermal.
Meine Hände fangen an zu zittern. Ich kann mich nicht von dem Foto losreißen. Ist sie eine Vorfahrin, von der ich nichts wusste? Eine Doppelgängerin? Ein Trugbild, das mein unter Schlafentzug leidendes Gehirn heraufbeschworen hat?
An mich sollst du dich erinnern. Mein Blick wandert zu dem jungen Mann, der neben ihr steht. Sein Gesicht ist von der Frau mit der Turmfrisur halb verborgen, doch das Lächeln und diese tief liegenden Augen würde ich überall wiedererkennen. Alec.
Nell hat ein ungutes Gefühl, als sie das erste Mal das Grand Winslow Hotel betritt. Ihr erster Reflex ist, wegzulaufen. Doch wieso? Nach und nach merkt sie, dass mit ihr eigenartige Dinge geschehen, seit sie im Hotel wohnt. Dazu kommt noch der ausweichende Angestellte Alec und die Recherchearbeit zum hundertvierzigsten Geburtstag des Hotels. Zugleich ist ihre Geschichte eng mit der von Lea verbunden, die 1905 ins Hotel eincheckte, um ihren gewalttätigen Verlobten zu heiraten.
Abwechselnd wird die Geschichte der beiden Figuren Lea und Nell erzählt, wobei die Kapitel der beiden thematisch so passend wechseln, dass man nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Leben gut erkennt, sondern auch die Einstellungen der jeweiligen Jahrzehnte bemerkt. Bis zum Ende gibt es keine schlüssige Erklärung, warum die Dinge im Hotel geschehen. Das ist nicht schlimm, sondern macht den Reiz der Geschichte aus. Sie braucht keine plausible Erklärung, viel wichtiger ist, wie sie gelöst wird. Leider geschieht das etwas zu schnell. Der Leser hat keine Gelegenheit, die Geheimnisse, die in der Mitte des Buchs offenbart werden, zu verdauen. Das Ende kommt dabei viel zu plötzlich. Auch hätte man gerne mehr über die Leben der Mädchen erfahren, die zwischen Lea und Nell im Hotel gastierten und ebenfalls mit ihnen verbunden sind. Ebenso fehlt eine Auflösung am Ende, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen wird, da man sonst das Leseerlebnis erheblich beeinträchtigen würde. Es ist ein Buch mit einer spannenden Grundgeschichte und der Schreibstil der Autorin Chelsea Bobulski ist sehr angenehm. Aber die Figuren werden an manchen Stellen zu wenig intensiv behandelt und man hätte gerne mehr über die Randfiguren erfahren.
Maike Grabow, 23 Jahre
Und hier kommt noch eine zweite Meinung:
„Lauf!“
Nell zieht mit ihrem Vater in das noble Grand Winslow Hotel. Sie hofft, dort nach dem tragischen Tod ihrer Mutter neu anfangen zu können. Doch schon bald häufen sich mysteriöse Vorkommnisse. Sie hört Stimmen und Musik aus den Wänden und wird nachts von beunruhigenden Alpträumen verfolgt. Was ist in dem Hotel passiert? Alles deutet auf einen schrecklichen Vorfall vor Jahrzehnten hin. Mit Hilfe des Hotelangestellten Alec Petrov versucht sie, die Geheimnisse zu lüften und weitere schreckliche Ereignisse zu verhindern.
Anfangs zog sich das Buch etwas. Ich musste mich wirklich durch die ersten hundert Seiten kämpfen, da die Geschichte mich erst gar nicht in ihren Bann gezogen hat. Dadurch, dass die Kapitel meist sehr kurz sind und die Geschichte abwechselnd in der Vergangenheit und in der Gegenwart spielt, dauerte es etwas, bis man die Charaktere besser kennenlernen und einschätzen konnte. Nach einiger Zeit wurde es aber interessanter. Die Geschichte nahm Fahrt auf und langsam ergab alles Sinn. Ab dann wurde das Buch auch immer besser und spannender. Man wollte wissen, was damals wirklich passiert ist und was das alles nun mit Nell und der Gegenwart generell zu tun hat.
Alec, der sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart eine Rolle spielt, hat ein großes Geheimnis, das mir persönlich zu schnell aufgeklärt wurde. Außerdem fand ich seine Charakterentwicklung in der Gegenwart unlogisch, da er erst sehr abweisend Nell gegenüber ist und sie nicht gerade freundlich behandelt, dann aber, sobald sein Geheimnis gelüftet ist, sie zu lieben scheint. Von jetzt auf gleich ist er das genaue Gegenteil von seinem Verhalten vorher, was mir nicht gefallen hat. Auch das ging mir zu schnell.
Die eigentliche Geschichte, um die es in dem Buch geht, kommt erst spät heraus und der Showdown ist sehr kurz gehalten. Man wird kaum auf das Ende vorbereitet, da auch die Protagonisten sich nicht ausführlich damit beschäftigen.
Der ganze Roman baut auf dem normale Leben von Aurelea und Nell auf, in dem nur nebenbei Andeutungen zu dem Fluch auftauchen. Das fand ich gut gelöst. Obwohl nicht viel passiert, macht es Spaß, dem alltäglichen Leben der beiden zu folgen. Trotzdem finde ich, dass man das Übernatürliche noch mehr hätte hervorheben können.
Mara Frohreich, 17 Jahre